Im Mittelalter gab es im Katholizismus die seltsame Idee, daß fast jede Krankheit des Geistes oder des Körpers geheilt werden kann, wenn man eine lange Reise unternimmt, um ein Körperteil eines lange verstorbenen Heiligen zu berühren. Die Kirche hatte ein Verzeichnis von Pilgerzielen zur Hand, das für jedes Problem eine Lösung bot. Zum Beispiel gab es für Mütter, die Probleme beim Stillen hatten, allein in Frankreich 46 Pilgerziele zu Klöstern der Heiligen Brustmilch der Maria. („Wenn die heilige Jungfrau Maria eine Kuh gewesen wäre“, bemerkte im 16. Jahrhundert der Protestant Johannes Calvin, nicht gerade freundlich, „wäre sie kaum in der Lage gewesen, diese Mengen an Milch zu produzieren“).
Gläubigen, die eine schmerzhaften Backenzahn hatten, wurde empfohlen, nach Rom in die Basilika San Lorenzo zu fahren, wo sie die Armknochen der Heiligen Apollonia, der Schutzheiligen der Zähne, berührten, oder sie konnten Teile von deren Gebiß in der Jesuitenkirche in Antwerpen finden, oder ihre Zehen an verschiedenen Orten in der Umgebung von Köln. Frauen, die unglücklich verheiratet waren, wurde empfohlen, nach Umbrien zu reisen, um den Schrein der Heiligen Rita von Cascia, der Schutzheiligen der Eheprobleme (und der verlorenen Gerichtsverfahren) zu berühren, und Menschen, die Angst vor Blitzen hatten, erhielten Erleichterung, indem sie zur Jesuitenkirche in Bad Münstereifel fuhren, und mit ihren Händen die Überbleibsel des Heiligen Donatus berührten, welcher dem Glauben nach Hilfe bei Feuer und jeder Art von Explosionen gewährte.
Obwohl heutzutage die meisten Menschen nicht mehr an die göttliche Kraft von Reisen glauben, um Zahnschmerzen oder Gallensteine zu heilen, sind wir immer noch davon überzeugt, daß manche Orte auf der Welt eine Kraft besitzen, psychische Leiden zu lindern und eine Veränderung zu bewirken, die nicht möglich wäre, wenn wir einfach im Bett liegen blieben. Es gibt Orte, die, aufgrund Ihrer einsamen Lage, ihrer Größe, des Klimas, das dort herrscht, der chaotischen Energie, bezaubernder Melancholie oder nur aufgrund der Tatsache, daß sie anders sind als unsere Heimat, die Kraft haben können, Verletzungen, die in uns sind, zu heilen.
Vielleicht stimmen wir mit dieser Aussage im Allgemeinen überein, aber es gibt trotzdem immer noch keine Tradition, Reisen unter dem rein therapeutischen Gesichtspunkt zu sehen, und Landschaften daher danach einzuordnen, wie sie uns im Innersten helfen. Die Reisebüros und Reiseveranstalter sind uns hierbei überhaupt keine Hilfe, da sie die Welt nach materiellen Gesichtspunkten kategorisieren, die fast überhaupt nichts mit unseren innersten Bedürfnissen, oder, anders ausgedrückt, unserer Seele, zu tun haben. Es wird uns die Auswahl von „Abenteuerreisen“, „Familienurlaub“, „Kulturwochenenden“ oder „Inselferien“ geboten – aber es wird nicht gesagt, welchen Sinn diese Ziele haben, wenn man sie aus dem Blickwinkel unserer Psyche betrachtet.
Wir müssen uns klar werden, welche inneren Wünsche wir haben und was die Außenwelt dazu sichtbar beitragen könnte. In Zukunft wäre es sinnvoll, wenn wir bewußter reisen würden – indem wir uns klar sind, daß wir zum Beispiel Reiseziele suchen, die psychologische Bedürfnisse wie „Ruhe“ oder „Erweiterung des Horizonts“ befriedigen können. Ein Besuch etwa des Monument Valley in Utah, USA, hätte nicht nur zum Ziel, ein undefiniertes „Abenteuer“ zu erleben, etwas, was wir genießen und nach zwei Wochen langsam anfangen, zu vergessen; die Reise dorthin wäre eine Gelegenheit, der Entwicklung unserer Persönlichkeit eine grundsätzlich neue Richtung zu geben. Es wäre der Aufbruch, ein völlig anderer Mensch zu werden, eine sekuläre Pilgerfahrt, die uns 8.000 km weit führt und 5.000 € kostet, aber deren Mittelpunkt eine grundlegende Weiterentwicklung unserer selbst ist.
Derzeit gibt es noch keine Kataloge solcher Reiseziele, die wir zu Rate ziehen können.
Dieser Artikel von Alain de Botton erschien am 15. August 2015 in englischer Sprache in der Financial Times (London).